D a s L i b e r a l e T a g e b u c h |
Sammlung
Originaldokumente aus Das Liberale Tagebuch, (http://www.dr-trier.de) |
Weihnachtsansprache 2002 von
Bundespräsident Johannes Rau
Guten
Abend, zum
Weihnachtsfest grüße ich Sie alle hier aus Berlin. In
den vergangenen Wochen haben wir alle gespürt, dass unser Land vor großen
Veränderungen steht. Es sind notwendige Veränderungen. Wenn wir unsere
Schulen und Universitäten auf die Höhe der Zeit bringen wollen, wenn jeder
sich weiterhin auf ein gutes Gesundheitssystem verlassen können soll, wenn
die Rente gerecht und sicher bleiben soll, wenn wir Beschäftigung sichern und
neue Arbeitsplätze schaffen wollen, wenn wir Freiheit und gleiche Chancen
sichern wollen, dann sind Reformen und Veränderungen notwendig. Veränderungen, die jeden einzelnen
betreffen und in unser aller Leben spürbar sein werden. Viele
sehen mit großen Sorgen in die Zukunft. Viele fragen sich: Ist jetzt die
lange Zeit zu Ende, in der es im großen und ganzen immer aufwärts ging?
Werden wir uns auf schwere Zeiten einstellen müssen? Neben
ernsten Stimmen und zutreffenden Warnungen hören wir in der letzten Zeit
manches törichte Gerede, als stehe der Untergang Deutschlands bevor. Wir
dürfen bei allem Streit nicht die Maßstäbe verlieren. Uns in Deutschland sind
doch nicht über Nacht alle Tugenden und Kräfte verlorengegangen, die uns
immer wieder geholfen haben, Schwierigkeiten zu überwinden: Fleiß und
Einsatzbereitschaft, Solidarität und Gemeinsinn, Mut und die Bereitschaft,
neue Wege zu gehen. Keine
Frage: wir stehen vor schweren Problemen. Da hilft es nicht, wenn jeder auf
den anderen schimpft. Es hilft auch nicht, wenn die Probleme verschleiert
oder geleugnet oder maßlos übertrieben werden. Was
ich von der öffentlichen Debatte erwarte, ist Ernsthaftigkeit und
Wahrhaftigkeit. Wer politisch handelt, muss sagen, was er tut und tun, was er
sagt. Politik
und Staat allein werden die Probleme nicht lösen können. Allzu viele haben in
unserem Land allzu lange nach dem Motto gelebt: Abwarten, was die anderen
machen. Es wird aber nur dann aufwärts gehen, wenn jeder Einzelne seine
eigene Verantwortung und seine eigenen Möglichkeiten erkennt. Lassen Sie uns
konsequent nach vorne schauen und die Aufgaben anpacken, die vor uns liegen. Ich
kenne eine Menge Beispiele dafür, dass Menschen Verantwortung übernehmen für
das Ganze. Ein solches Beispiel macht mir besonders Mut. Da gab es im Sommer
die vielen tausend Helfer, die selbstlos und unaufgefordert den Opfern der
schrecklichen Flut halfen, das Schwierigste zu überstehen. Hier wurde
deutlich: Wo es eine Herausforderung gibt, wo es eine klare Aufgabe gibt, da
sind Menschen auch bereit, sich einzusetzen und die private Bequemlichkeit
zurückzustellen. Es
gibt noch viel mehr solcher Beispiele für bürgerliches Engagement.
Solidarität und Miteinander-Teilen sind keine Fremdworte in Deutschland.
Dafür bin ich dankbar - und das macht mich zuversichtlich. In
diesen Tagen bewegen uns gewiss nicht nur Fragen des politischen Lebens.
Jeder von uns hat ja sein ganz persönliches Jahr erlebt und schaut darauf
zurück: Auf neue Begegnungen, neue Herausforderungen, vielleicht auf den nur
schwer zu ertragenden Verlust eines nahen Menschen, vielleicht auf eine
bedrückende Nachricht, die gerade in diesen festlichen Tagen wieder
schmerzlich ins Bewusstsein kommt. Wie
immer wir auf dieses Jahr zurückschauen, wie immer wir an diesen Tagen
gestimmt sind: Uns allen gilt die alte und jedes Jahr neue Botschaft des
Weihnachtsfestes. Sie kündet von der Nähe Gottes zu jedem einzelnen Menschen
und sie kündet vom Frieden auf Erden. Auch wer kein Christ ist, wird sich der
großen Zuversicht, die in den Bildern und Liedern von Weihnachten ausgedrückt
wird, nicht verschließen, wenn er Weihnachten feiert. Jeder kann sich von der
Freude anstecken lassen, die von dem Licht ausgeht, das in der Finsternis
leuchtet. Wir
leben nicht nur als Einzelne. Die erste Gemeinschaft, zu der wir gehören, ist
die Familie. Hier finden wir Geborgenheit und Anerkennung, hier sind wir im
wahrsten Sinne des Wortes zu Hause. Ich
weiß, dass in den Familien längst nicht immer alles Gold ist. Ärger, Streit
und Zwietracht: das kommt, wie man so sagt, in den besten Familien vor. Wahr
ist aber auch: Ein
gelingendes Familienleben ist für die große Mehrheit von uns nach wie vor
eines der wichtigsten Dinge im Leben. Das zeigen uns auch alle Umfragen.
Zufriedenheit, Geborgenheit und Lebensglück - das verbinden die meisten
Menschen mit einem glücklichen Familienleben. Das
lässt mich hoffen, dass Familien nicht all zu schnell aus-einander gehen,
wenn es einmal schwierig wird. Das lässt mich hoffen, dass Eltern das Wohl
ihrer Kinder in den Mittelpunkt stellen. Was
Kinder in der Familie erfahren, das prägt sie ein Leben lang. Geborgenheit,
Respekt, Verlässlichkeit, Anstand, Rücksichtnahme, Teilen - all das lernt man
zuerst in der Familie. Und wie viel mehr Lebenschancen haben Kinder, für die
sich ihre Eltern Zeit nehmen, denen sie vorlesen, mit denen sie reden, denen
sie zuhören, mit denen sie singen und spielen! Die
PISA-Studie, die uns im zu Ende gehenden Jahr zu Recht so aufgeschreckt hat,
hat nicht nur Mängel des Bildungssystems offengelegt. Sie ist auch ein
Hinweis darauf, wieviel für die Zukunft unserer Kinder von einer guten
Erziehung zu Hause abhängt. Familien
- und auch die vielen alleinerziehenden Mütter und Väter - leisten einen
großen Beitrag zur Zukunft unserer Gesellschaft, der durch nichts zu ersetzen
ist. Das ist vielen zu wenig bewusst, deswegen sind Familien auf mancherlei
Weise benachteiligt. Es
ist ein Zeichen für eine fundamentale Fehlentwicklung, wenn inmitten unserer
Wohlstandsgesellschaft Kinder zu einem Armutsrisiko werden können. Um
unserer eigenen Zukunft willen müssen alle politischen und gesellschaftlichen
Vorhaben darauf hin geprüft werden, ob sie den Familien schaden oder ob sie
sie fördern. Wir
können dankbar dafür sein, dass wir in Deutschland in Frieden leben. Damit
auch Menschen anderswo in Frieden leben können, sind Soldaten der Bundeswehr
und zivile Helfer in vielen Ländern im Einsatz. Ihnen gilt heute Abend mein
Dank und ihren Angehörigen mein besonderer Gruß. Ich
denke auch an die, die diese Weihnachtstage allein verbringen müssen oder die
schwer krank sind. Ich wünsche ihnen ein Stück der Zuversicht, die wir aus
der weihnachtlichen Botschaft schöpfen können. Das kleinste Licht ist stärker als alle Finsternis. In diesem Sinne wünschen meine Frau und ich Ihnen allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest - und ein glückliches und friedvolles neues Jahr. |